Im Rahmen des Literaturfestivals „Worte bewegen“ in St. Stefan ob Stainz fand ein aufschlussreiches Fachgespräch zum Thema „Transparente Entscheidungsprozesse: Was kann Kritik?“ statt. Die Jury des Österreichischen Literaturpreises für Erzählungen, bestehend aus Dr. Gerwig Epkes und Dr. Daniela Strigl sowie Katja Gasser vom ORF, diskutierten unter der Moderation von Stefan Gmünder über die Mechanismen und Herausforderungen der Literaturkritik und der Jurierung in Literaturwettbewerben. Das Gespräch beleuchtete wesentliche Aspekte der Literaturkritik und bot dem Publikum einen seltenen Einblick in die Entscheidungsprozesse von Literaturjurys.
Fachgespräch Daniela Strigl, Katja Gasser, Gerwig Epkes, Stefan Gmünder (v.l.n.r)
Foto: Michael Sticher, fotografist.at
Wie sind die Juror:innen zur Literaturkritik gekommen?
Der Moderator Stefan Gmünder, selbst ein erfahrener Literaturkritiker und Staatspreisträger, eröffnete die Diskussion mit der Frage, wie die anwesenden Jurymitglieder ihren Weg zur Literaturkritik gefunden hätten.
Dr. Gerwig Epkes, langjähriger Literaturredakteur bei SWR2 und Vorsitzender der Jury, beschrieb seinen Weg als „eine natürliche Entwicklung aus der Liebe zur Literatur“. Epkes studierte Literaturwissenschaft und Germanistik und wurde über seine akademische Beschäftigung mit Texten zur Kritik hingeführt. Für ihn sei Literaturkritik immer auch eine Art „Gespräch mit dem Text“, in dem man als Kritiker die Aufgabe habe, die Essenz des Geschriebenen zu ergründen und zu reflektieren, was es im gesellschaftlichen und kulturellen Kontext bedeutet.
Dr. Daniela Strigl, Professorin für Literaturwissenschaft an der Universität Wien und eine der prominentesten Literaturkritikerinnen im deutschsprachigen Raum, berichtete von ihren frühen Ambitionen, die Literatur nicht nur als Leserin zu genießen, sondern sich kritisch mit ihr auseinanderzusetzen. Ihre Leidenschaft für das Schreiben über Literatur entwickelte sich im Laufe ihrer Studienzeit, und sie begann früh, Rezensionen für Zeitschriften zu verfassen. Für Strigl sei die Literaturkritik eine Möglichkeit, „in einen Dialog mit der literarischen Öffentlichkeit zu treten“, in dem sie Texte nicht nur bewertet, sondern vermittelt.
Katja Gasser, Leiterin der Literaturabteilung beim ORF und Kulturjournalistin bei Ö1, berichtete, wie ihre Arbeit als Redakteurin ihren Zugang zur Literaturkritik geprägt habe. Für Gasser stand von Beginn an die Frage im Vordergrund, wie Literatur über das Medium des Rundfunks einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden könne. Die Kritik verstehe sie als „Vermittlungsinstanz“, die Literatur für Hörer:innen, Zuschauer:innen oder Leser:innen greifbar und verständlich mache, ohne dabei ihre Komplexität zu simplifizieren.
Was braucht eine gute Kritik?
Im weiteren Verlauf des Gesprächs wurde die Frage erörtert, welche Eigenschaften eine gute Literaturkritik ausmachen. Alle drei Diskussionsteilnehmer:innen waren sich einig, dass eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Text und eine klare, nachvollziehbare Argumentation im Zentrum einer gelungenen Kritik stehen müssen.
Strigl betonte, dass eine gute Kritik mehr leisten müsse, als den bloßen Inhalt des Textes wiederzugeben oder oberflächlich zu bewerten. „Es geht darum, die Struktur des Textes zu durchdringen, seine sprachlichen Nuancen zu erkennen und ihn im Kontext der literarischen Tradition und Gegenwart einzuordnen“, so Strigl. Gleichzeitig müsse die Kritik zugänglich und verständlich bleiben, um auch jene anzusprechen, die nicht mit der gesamten literarischen Tradition vertraut seien.
Fachgespräch Jury Daniela Strigl, Katja Gasser, Gerwig Epkes, Stefan Gmünder (v.l.n.r)
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Epkes ergänzte, dass eine gute Kritik immer auch fair und respektvoll gegenüber dem Werk und der Autorin oder dem Autor sein müsse. „Es gibt keine endgültige Wahrheit in der Literaturkritik“, sagte er. Vielmehr sei es Aufgabe des Kritikers/der Kritikerin, seine/ihre Position transparent zu machen und den Leser:innen zu zeigen, welche Kriterien zur Bewertung herangezogen wurden.
Katja Gasser fügte hinzu, dass Literaturkritik auch eine Form von „Kulturarbeit“ sei. Kritiker:innen hätten die Verantwortung, literarische Trends und Entwicklungen aufzugreifen und sichtbar zu machen, was „im literarischen Feld gerade passiert“. Gleichzeitig betonte sie die Rolle der Kritik als „Brücke“ zwischen der literarischen Elite und dem allgemeinen Publikum.
Fachgespräch Jury Daniela Strigl, Gerwig Epkes, Katja Gasser, Stefan Gmünder (v.l.n.r)
Foto: Michael Sticher, fotografist.at
Wie entscheiden Jurys?
Die Frage nach den Entscheidungsprozessen in Literaturjurys sorgte für besondere Aufmerksamkeit. Moderiert von Gmünder gewährten die Diskutant:innen Einblicke in die Funktionsweise von Jurysitzungen und die oft schwierige Aufgabe, aus einer Vielzahl hochwertiger Einsendungen die besten Texte auszuwählen.
Daniela Strigl beschrieb den Prozess als „konstruktive Auseinandersetzung mit anderen Perspektiven“. Oft sei es eine Frage der Gewichtung verschiedener Kriterien – Stil, Inhalt, Innovation – und der Diskussion über das, was der jeweilige Text zu leisten imstande sei. „Es gibt keinen absoluten Maßstab, es geht um die gemeinsame Erarbeitung eines Verständnisses“, erklärte Strigl.
Epkes bestätigte, dass die Diskussionen innerhalb der Jury oft sehr kontrovers sein können. „Es gibt Texte, die provozieren, die herausfordern – und genau das macht die Entscheidung oft schwer“, sagte er. Für Epkes sei es wichtig, dass in einer Jury unterschiedliche Sichtweisen vertreten sind, um eine breitere Perspektive auf die eingereichten Werke zu gewinnen.
Katja Gasser ergänzte, dass neben der individuellen Bewertung durch die Jurymitglieder auch die Diskussionen entscheidend seien. „Manchmal gibt es Texte, die auf den ersten Blick weniger auffällig erscheinen, aber durch die Diskussionen an Tiefe gewinnen“, sagte sie. Diese Dynamik sei ein wesentlicher Bestandteil des Entscheidungsprozesses und zeige, wie wichtig der Austausch innerhalb der Jury sei.
Zum Abschluss des Gesprächs wurde die Frage nach Verbesserungspotenzialen in der Literaturkritik und der Juryarbeit gestellt. Hier waren sich alle Teilnehmer:innen einig, dass mehr Transparenz in den Entscheidungsprozessen wünschenswert wäre.
Strigl betonte, dass die Öffentlichkeit oft nicht nachvollziehen könne, wie die Entscheidungen in Jurys getroffen würden, was zu Missverständnissen und Unzufriedenheit führen könne. „Es wäre gut, wenn die Prozesse, zumindest in groben Zügen, klarer kommuniziert werden“, schlug sie vor.
Epkes stimmte zu und ergänzte, dass die Kritik an Literaturkritiker:innen selbst oft intransparent sei. „Wir müssen uns als Kritiker auch der Kritik stellen“, sagte er. Eine offene Diskussion über die Kriterien und Methoden der Literaturbewertung könne helfen, die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen in die Kritik zu stärken.
Gasser schloss mit dem Hinweis, dass die Kritik immer auch den gesellschaftlichen Kontext reflektieren müsse. „Wir müssen uns fragen, welche literarischen Stimmen zu Wort kommen und welche vielleicht unterrepräsentiert sind“, sagte sie. Gerade im Hinblick auf die Vielfalt der literarischen Landschaft sei es wichtig, auch Autor:innen außerhalb des etablierten Kanons Raum zu geben.
Das Fachgespräch bot tiefe Einblicke in die Arbeit von Literaturkritiker:innen und Jurys und beleuchtete, wie wichtig eine reflektierte und transparente Auseinandersetzung mit Texten ist. In einer Zeit, in der Literatur immer wieder als Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen dient, ist die kritische Bewertung literarischer Werke wichtiger denn je – und der Austausch darüber unerlässlich.