Team

Künstlerischer Leiter

Stefan Gmünder

Foto: M. Cremer

Stefan Gmünder

Stefan Gmünder, geboren 1965 in Bern, lebt seit mehr als 30 Jahren in Wien, wo er als Redakteur der Tageszeitung Der Standard und der Literaturzeitschrift Volltext arbeitet. 2015 bis 2019 war er Juror beim Ingeborg Bachmann Preis in Klagenfurt. 2021 wurde er mit dem Österreichischen Staatspreis für Literaturkritik ausgezeichnet.

Über das Erzählen

Auszug aus der Anthologie „Worte bewegen III“
Präsentation am Samstag, dem 28. September 2024

Heiner Müller sagte einmal, er komme sich vor wie ein Blinder, der mitten auf einer belebten Kreuzung merkt, dass auch sein Hund nichts sieht. Der ostdeutsche Autor und Dramatiker, der sich tiefer in das System der Deutschen Demokratischen Republik verstrickt hatte, als es ihm lieb sein konnte, traf diese Selbstanalyse in einer 1991 gehaltenen Rede. Der Kalte Krieg, in dem sich West und Ost jahrzehntelang waffenstarrend gegenübergestanden hatten, war damals seit einiger Zeit beendet, die Sowjetunion zerfallen und Deutschland gerade wiedervereinigt worden. Kurz: Es handelte sich um eine Zeit des Übergangs, der Ungewissheit, vielleicht des Neubeginns auch. Doch was tun, um sich in dieser Zeit der Unsicherheit zu orientieren, in der sich, so Müller, „Wut über Vergangenes“ mit der „Neugier auf Kommendes“ vermische? Für sich selbst hatte Müller ein Rezept für den Umgang mit derlei Orientierungslosigkeiten gefunden: Das Lesen von Erzählungen.

In seinem Fall waren es die Erzählungen von Heinrich von Kleist, einem Meister dieser Form und einem Schriftsteller, der nur allzu gut um die „gebrechliche Einrichtung der Welt“ wusste. Nun, nur dreißig Jahre nach Müllers Rede scheinen wir wiederum in einer Zeit angelangt, in denen ein heißer Krieg tobt und ein neuer Kalter Krieg droht – und in einer Zeit, in der scheinbar Festgefügtes zersplittert, die Gesellschaft gespalten ist und Gewissheiten und Realitätskonzepte ins Wanken geraten. Doch das ist ein anderes Thema für einen anderen Text. Fakt aber bleibt, dass das literarische Erzählen, Literatur und das Lesen gerade in unsicheren Zeiten Wegweiser sein können. Warum? Weil Literatur seit jeher in die Grau-, Übergangs- und Grenzbereiche unseres Lebens blendet. Sie spricht vom Mehrdeutigen und öffnet mit Sprache und ja, auch mit Erfindung, die Räume des Denkbaren und Möglichen. Zuweilen sprengt sie damit nicht nur die Kerker des Schweigens, sondern auch die Räume der Alternativlosigkeit.

Wir leben in einer Zeit, die Gegensätze – Stadt/Land, gut/böse, wir/die anderen, richtig/falsch – betont, und nicht das Verbindende. Die Bruchlinien sind mittlerweile scharf, die Stimmung unversöhnlich. Literatur, gerade in der kurzen, kondensierten Form der Erzählung, die nicht wie der Roman das große Ganze, sondern einen Ausschnitt im Auge hat, kann ein Mittel sein, miteinander in Verbindung zu bleiben. Indem man sich in der Erzählung eines oder einer anderen erkennt, oder spürt, dass ihn oder sie die gleichen Themen und Ängste umtreiben wie einen selbst, bleibt man in Kontakt mit dem anderen und mit sich selbst.

Literatur bewegt und sie spricht. Sie spricht, und mag sie noch so „erfunden“ und individuell sein, oder im fremdem Umfeld, einem anderen Land, einer anderen Zeit spielen, von einer Wirklichkeit, die uns verbindet. Das Sein in der Welt, das Leben im Mühlrad der Zeitgeschichte, die Fragilität der Natur, Beziehung, Liebe Verlangen, Sehnsucht, Erinnerung, Angst, der Kampf gegen die Verzweiflung, das alles sind Dinge, die uns verbinden. Um „Wahrheit“ geht es in der Literatur indes nicht, es geht um eine von vielen Möglichkeiten der Wahrheit. Eine Geschichte wird erzählt, nicht die Geschichte. Das unterscheidet die Erzählung auch von jenen festgefügten, das Weltbild von Gruppen und Nationen definierenden „Narrativen“, die heute allgegenwärtig sind. Wobei es in der Literatur nicht primär um Inhalte geht, sondern um das Erzählen an sich, um ein Mitteilen, das ein Gegenüber voraussetzt und mitdenkt. Einem Ehepaar, das in aller Freundschaft und Freundlichkeit kaum mehr zusammen spricht, fehlen nicht etwa die Inhalte oder ein Narrativ, es fehlt ihm die gemeinsame Erzählung.

Die wahre Berufung der Kunst bestehe darin, „Sammelpunkt“ zu sein, sagte der französische Schriftsteller Albert Camus kurz nachdem er den Nobelpreis erhalten hatte, in einem Vortrag. Seine These: Wir gleichen uns, in dem, was wir zusammen sehen und in dem, was wir zusammen erleiden, egal ob wir am Land, in der Stadt oder auf einem anderen Kontinent leben. Ein Sammelpunkt möchte auch diese Anthologie mit einer Auswahl von zehn für den Literaturpreis „Worte bewegen“ eingereichten Erzählungen sein. Fünf davon wurden mit Preisen ausgezeichnet. So unterschiedlich die literarischen Zugänge in diesen Erzählungen, die zuweilen von harten Lebensrealitäten handeln, auch sein mögen, nie blenden diese Texte nur in die Felder der Ausweglosigkeit oder Knappheit. Im Gegenteil, es schwingt in ihnen Fülle, der Duft von Wiesen, die Schönheit von Landschaften oder von Begegnungen mit – und eine spröde Glückserwartung, die, obgleich im Lauf der Geschichte Lügen gestraft, unter Zittern und Beben weiterlebt. Nicht nur in der Literatur.

Stefan Gmünder
Künstlerischer Leiter

Jury

Dr. Gerwig Epkes

Foto: SWR/Alexander Kluge

Dr. Gerwig Epkes

Vorsitzender der Jury

Gerwig Epkes, geboren 1953, Dr. phil., studierte Rechtswissenschaften, Germanistik und Sinologie. Bis 2019 Literatur-und Feature-Redakteur beim SWR in Baden-Baden, wo er lange Jahre für die SWR-Bestenliste im Radio und für die Sendereihe „SWR2 Erzählung“ verantwortlich war. Epkes leitet Literaturfestivals und ist Herausgeber von Hörbüchern und Erzählungsanthologien.

Diplom-Kulturwirtin Nicola Steiner

Foto: Literaturhaus Zürich cayseyavas

Diplom-Kulturwirtin Nicola Steiner

(CH/Zürich)
Geboren 1975, kommt aus Berlin. Sie war Mitglied der Literaturredaktion des Schweizer Fernsehen (SRF) und moderierte den »Literaturclub«. Nach ihrem Studium der Sprachen sowie Wirtschafts- und Kulturraumstudien in Passau arbeitete sie bei den Verlagen Hanser in München und Schöffling & Co. in Frankfurt und ab 2003 bei der Zeitschrift «Du» in Zürich. Seit 2007 war sie Redakteurin bei den »Sternstunden« von SF sowie SRF und freie Mitarbeiterin für Daniel Keel, den Verleger des Diogenes Verlags. Seit September 2023 leitet sie das  Literaturhaus Zürich.
Mag. Dr. Daniela Strigl

Foto: Clarissa Stadler

Mag. Dr. Daniela Strigl

(AT/Wien)

Geboren 1964 in Wien. Literaturwissenschaftlerin, Essayistin, Kriti­kerin (F.A.Z.Der Standard u.a.). Studium der Germanistik, Theaterwissenschaft, Philosophie, Geschichte an der Universität Wien, Diplomarbeit über Christian Morgenstern, Dissertation zu Theodor Kramer. 2005 Scholar in Residence an der Rut­gers University, NJ, lehrt seit 2007 am Institut für Germanistik der Universität Wien, 2018 Habilitation (Neuere deutsche Literatur), 2021 Gastprofessur für Gender Studies an der Universität Salzburg. Mitglied im Kritikerteam des Literaturclubs im Schweizer Fernsehen SRF. Gehörte u.a. der Jury des Ingeborg Bachmann Prei­ses (Klagenfurt), des Deutschen Buchpreises sowie des Preises der Leipziger Buchmesse an. Österreichischer Staatspreis für Li­te­raturkritik 2001, Max Kade Essaypreis 2007, Alfred Kerr Preis 2013, Berliner Preis für Literaturkritik 2015, Johann-Heinrich-Merck-Preis 2019. „Wahrscheinlich bin ich verrückt …“ Marlen Haushofer – die Biographie (2009). Zuletzt: »Berühmtsein ist nichts«. Marie von Ebner-Eschenbach. Eine Biographie (2016); Alles muss man selber machen. Biographie. Kritik. Essay (2018); Peter Rosegger: Ausgewählte Werke in Einzelbänden (Mithg., 2018); Gedankenspiele über die Faulheit (2021), Sinn und Sinnlichkeit. Lesen, verstehen, schwelgen. Münchner Rede zur Poesie (2021).

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Lisa Höllebauer

Foto: Lisa Höllebauer

Lisa Höllebauer

Lisa Höllebauer (1994) studierte Germanistik an der Universität Graz mit einer Masterarbeit zu Lesungen und Innovation. Organisiert und moderiert Lesungen und Workshops (z.B. writers in (climate) crisis – ein Workshop mit Lesung zu Klimawandelliteratur, Junger Literaturclub Graz trifft Leipzig etc.). Co-Gründerin des Literaturwettbewerbs „wir sind lesenswert“. Außerdem: Kunstraum Steiermark Stipendiatin 2023/24 und im Zuge dessen Co-Leiterin von BLÄTTERN – Raum für grenzenlose Nachwuchsliteratur.